KinWave

1. Anwendungsbereich
2. Prozessbeschreibung
3. Programmtechnische Umsetzung
4. Weiterführende Literatur

1. Anwendungsbereich

Die Anwendung der kinematischen Welle wird dann empfohlen, wenn die Konzentration des Landoberflächenabflusses detailliert beschrieben werden soll.

Eine Anwendung ist für alle Raumbezüge außer Elementarflächen möglich, allerdings nur für Kaskadensegmente KASEG (s. Basisdokumentation,  Kapitel 4) sinnvoll.

2. Prozessbeschreibung

Der Landoberflächenabfluss wird nach folgenden Vorstellungen über seine Genese modelliert.

Wenn im Zuge der Abflussbildung Effektivniederschlag ge­bildet wurde, d.h. die Nieder­schlags­intensität die Infiltrationsintensität über­schrei­tet oder Wasser exfiltriert, wird dieses Wasser entsprechend dem örtlich vor­handenen Mikro­relief[1] in Mulden gespeichert. Sind diese gefüllt, kann das „über­laufende“ Wasser entsprechend dem Gefälle abfließen. Dieses Wasser fließt zu­erst als Schichtenabfluss ab und infiltriert wieder, wenn sich dafür die Be­din­gungen verbessern (zeitlich oder örtlich sinkende Nieder­schlags­intensität und/oder örtlich steigende Infiltrationsintensität). Wenn diese Bedingungen nicht ein­tre­ten, sammelt es sich zuerst entsprechend des örtlich vorhanden Mikro­reliefs in sogenannten „micro channels“ und fließt in diesen weiter entsprechend dem Re­lief. Die Fließgeschwindigkeit wird bestimmt durch das Gefälle, die Ober­flä­chen­rauhigkeit, die abfließende Wassermenge und die benetzte Oberfläche (hydrau­lischer Radius).

Wie schon angedeutet, besitzt das Mikrorelief einen entscheidenden und sehr differen­zierten Einfluss auf die Bildung und die Geschwindigkeit des Landober­flächen­abflusses, und zwar auf

  • a) die Kapazität des Muldenspeichers,
  • b) den Übergang vom Schichten- zum Gerinneabfluss,
  • c) die Gerinneform (hydraulischer Radius) und die Rauhigkeit.

Gleiche Oberflächenstrukturen (z.B. Fahrzeugspuren, Ackerfurchen) können je nach ihrer Ausrichtung als Muldenspeicher oder als Gerinne fungieren.

Andererseits liegt das Microrelief unter dem Auflösungsvermögen der für die Model­lierung nutzbaren Informationsträger. Die Größen a) bis c) können nur unter Verwen­dung plausibler Annahmen geschätzt werden, so dass eine streng deter­minierte Modellie­rung des Landoberflächenabflusses praktisch nicht möglich ist.

Für die Berechnung der Fließgeschwindigkeit des Landoberflächenabflusses kom­men Ansätze zur Anwendung, die auf der vielfach für diese Problemstellung an­gewendeten Potenzgleichung von MANNING-STRICKLER beruhen. Sie lautet:

\fn_jvn v=R^{2/3}\cdot S^{1/2}/n

Gl. 2-1

wobei n [s/m1/3] ein Rauhigkeitsbeiwert (Manningbeiwert), S das Gefälle und R der hydraulische Radius ist. R ist definiert als der Quotient aus durchflossener Fläche A und benetztem Umfang U.

Diese Gleichung wird für den Schichtenabfluss unter der Annahme, dass die Brei­te von A sehr groß ist im Vergleich zur Höhe h (width channel approximation) zu

\fn_jvn vs=h^{2/3}\cdot S^{1/2} /ns

Gl. 2-2

mit ns als Rauhigkeit der Landoberfläche.

Nach Integration über den Fließweg als Schichtenabfluss ergibt sich die Fließ­zeit Ts mit h = RO * T zu (vgl. z.B. GUPTA & SINCLAIR 1976, WILLGOOSE et. al 1991)

\fn_jvn Ts=\mu\cdot (Ls\cdot ns)^{3/5}/RO^{2/5}\cdot S^{3/10}

Gl. 2-3

mit µ als Faktor zur Berücksichtigung unterschiedlicher Einheiten, µ=1 für RO in [m/s] und Ls in [m].

Konzentriert sich der Schichtenabfluss in einem Mikrogerinne, so lässt sich die Gerinne­form i.d.R. durch ein Dreieck beschreiben, wobei dessen Seitenneigung stark durch das Geländegefälle geprägt wird. Für ein Dreiecksgerinne gilt nach WILLGOOSE et. al (1991)

\fn_jvn vg=(\ss \cdot Q)^{1/4}\cdot S^{3/10}/ng^{3/4}

Gl. 2-4

wobei Q der Abfluss, ng die Gerinnerauhigkeit, ß =  / (4 * (1 + ²)) und  die Seiten­neigung der Gerinnekanten ist.

Die Fließzeit Tg durch ein Gerinne der Länge Lg ergibt sich für Q=RO * Ae zu

\fn_jvn Tg=\mu\cdot Lg\cdot ng^{3/4}/[(\ss\cdot RO\cdot Ae)^{1/4}\cdot S^{3/10}]

Gl. 2-5

µ=1 für RO in [m/s] und Lg in [m] und mit Ae in [m²] als Einzugsgebiet des Gerinnes.

Die Abschätzung der Fließlängen Ls und Lg hängt eng mit der Fragestellung zusammen, wann der anfängliche Schichtenabfluss in Rinnenabfluss übergeht bzw. wie dicht das Rinnennetz in der betrachteten Flächeneinheit ist.

Die Dichte des Gerinnenetzes wird in der klassischen Hydrologie durch die Fluss­dichte D beschrieben. Sie ist die Länge sämtlicher Flussabschnitte eines Ein­zugs­ge­bietes, bezogen auf dessen Fläche. Die Flussdichte ist ein Maß für die relativen An­teile von Landoberflä­chen- und Gerinneabfluss. Sie wird be­stimmt durch die Nieder­schlags­verhältnisse, das Gelände­gefälle, die Durch­lässig­keit der Böden und die Vegetationsverhältnisse.

WILLGOOSE et. al (1991) gingen im Rahmen einer Modellierung der Genese von Ge­rinne­netzen u.a. von der Überlegung aus, dass Gerinnenetze prinzipiell raum­fül­lend sind. Raumfüllend bedeutet aber, dass Gerinnenetze sich in allen Maß­stabs­ebenen ausbilden und nicht nur das eigentliche Flussnetz, sondern auch das potentielle Gerinnesystem, das nur während Abfluss­bil­dungs­pe­rioden Wasser führen kann, betrachtet werden muss. Dieses potenzielle Ge­rinne­system wird ent­sprechend den Gefälleverhältnissen gebildet durch Erosionsprozesse bzw. durch die Tallinien entsprechend der Ober­flächen­struktur nachgebildet. Mit kleiner werdendem Maßstab nimmt die Wahr­schein­lich­keit zu, dass anthropogene Einflüsse wie Fahrzeugspuren und Acker­furchen bevorzugte Fließwege darstellen und den Gefälleeinfluss überlagern.

Bei beliebiger Verfeinerung der Auflösung und unter Berücksichtigung seiner raum­füllenden Eigenschaft geht die Länge des Gerinnenetzes gegen un­endlich, der Fließweg des Wassers als Schichtenabfluss gegen Null. Gleichzeitig wird aber die Tiefe des Gerinnes immer geringer, so dass es leicht ausufern kann. In diesem Fall ist die Abfluss­tiefe größer als die Gerinnetiefe und es ist wieder von einem Schichtenabfluss auszuge­hen.

Eine eindeutige Festlegung, wie lange Schichtenabfluss stattfindet, ist also nicht möglich, da

  • dieser Übergang ereignisabhängig vom Effektiv­nieder­schlag abhängt,
  • das Mikrorelief unterhalb der Auflösung des GIS liegt und damit auch nicht modell­mäßig berücksichtigt werden kann,
  • der anthropogene Einfluss auf das Mikrorelief nicht determiniert erfassbar ist.

Der Rauhigkeitsbeiwert nach MANNING ist nur experimentell bestimmbar. In der Literatur sind unterschiedlichste Angaben zur Größe von n zu finden. ROSS et al (1979) setzen für Wald 0.4, Acker 0.35, Weide 0.3, Ortschaften 0.25 und ver­sie­gelte Flächen 0.02 an, während PREIßLER (1978) eine Größenordnung tiefer liegt und für Wald 0.08, für verschiedene landwirtschaftliche Nutzungen zwischen 0.033 und 0.026 und für versiegelte Flächen 0.01 empfiehlt.

Auf Grund der großen Unsicherheiten bei der Festlegung der Rauhigkeitsbeiwerte, die für die Modellierung als zu optimierender Parameter angesehen werden müssen, wurde in der vorliegenden Modellversion auf eine Unterscheidung zwischen Schichtabfluss und Abfluss im Mikrogerinne verzichtet, weil dies letztlich mindestens einen weiteren freien Parameter bedeutet. Der Landoberflächenabfluss wird deshalb prinzipiell als Schichtenabfluss beschrieben.


[1] Unter Mikrorelief werden Oberflächenstrukturen wie Erosionsrinnen, Ackerfurchen, Hufeindrücke u.ä. verstanden. Es ist einerseits natürlich gegeben (z.B. kleinsträumige Deformationen der Oberfläche wie Mulden) und zeitlich stabil, zum anderen auch durch die Nutzung und den Bearbeitungszustand zeitlich sehr variabel beeinflusst.

3. Programmtechnische Umsetzung

3.1 Räumliche und zeitliche Diskretisierung

Das Modul Kinematische Welle wird über die Hauptsteuerdatei ARC_EGMO.STE aktiviert. Als Raumauflösungen können Kaskadensegmente (s. Basisdokumentation, Kapitel 4), Teileinzugsgebiete, Regionen oder das Gesamtgebiet gewählt werden.

Die zeitliche Diskretisierung bzw. die Berechnungszeitschrittweite DTb wird programmintern im Bereich zwischen 1 Sekunden und einem Tag variabel festgelegt (s. Basisdokumentation, Kapitel 3.4).

3.2 Ein- und Ausgangsgrößen

Eingangsgröße ist der potentielle Landoberflächenabfluss als Überlauf des Muldenspeichers (s. Modellebene Abflussbildung). Ausgangsgrößen sind der Landoberflächenzufluss in das Gewässersystem als Inputgröße für die nachgeschaltete Modellebene Gesamtabfluss und der Anteil des Landoberflächenabflusses, der innerhalb des Berechnungszeitschrittes nicht das Fließgewässersystem erreicht hat. Letzterer wird der Abflussbildung erneut zur Infiltration angeboten.

3.3 Modellinitialisierung und Parameterermittlung

Vor den eigentlichen Berechnungen erfolgt im Sinne eines „preprocessings“ die Ermittlung der Modellparameter und von zeitkonstanten Hilfsgrößen, deren Berechnung aus numerischen Gründen aus den zeitzyklischen Simulationsrechnungen herausgezogen worden sind. Neben der Festlegung der Berechnungshierarchie, die sicherstellt, dass der Abfluss aus einem Segment im aktuellen Zeitschritt den Unterlieger erreicht (Berechnung also von „oben“ nach „unten“) wird für jedes Kaskadensegment unter Nutzung der Informationen der im Basisdokumentation, Kapitel 4 beschriebenen GIS-Datenbasis ermittelt:

  • das mittlere Geländegefälle S,
  • die mittlere Oberflächenrauhigkeit (s. Tabelle 9) n = 1 / M,
  • der Flächenanteil ant_kas jeder Elementarfläche oder Hydrotopklasse an ihrem Kaskadensegment,
  • der Fließweg L zum Unterlieger (Kaskadensegment oder Gewässerabschnitt) und
  • der zeitkonstante Anteil der Gleichung (4-3) als Abflussfaktor \tiny \fn_jvn afak\_s=(L*n)^{3/5}/S^{3/10}.

3.4 Modellrechnung

Innerhalb des Simulationszyklus wird das Abflusskonzentrationsmodell nur dann aktiv, wenn im Zuge der Abflussbildungsberechnungen auf mindestens Elementarfläche oder Hydrotopklasse Direktabfluss gebildet wurde.

Ist dies der Fall, wird für jedes Raumelement die flächenbezogene Summe aller internen (hydrotop- oder elementarflächenbezogenen) Direktabflüsse ermittelt. Basierend auf dem Ansatz der kinematischen Welle wird für jedes Element die Fließzeit Ts ermittelt, die der Landoberflächenabfluss RO zum vollständigen Verlassen benötigen würde.

Das Minimum aller Fließzeiten Ts (aller Raumelemente) bildet die Grundlage für die Abschätzung der aktuellen Berechnungszeitschrittweite DTb. Diese wird also bestimmt durch das Element mit den „günstigsten“ Fließbedingungen (größtes Gefälle, geringste Rauhigkeit, kürzester Fließweg) und ist ereignisabhängig über die Abflusshöhe.

In Abflussbildungsperioden wird also ereignisabhängig die Standardberechnungszeitschrittweite DTd, die der Zeitauflösung der meteorologischen Daten entspricht, aus Stabilitätsgründen bis in den Minuten- und Sekundenbereich herunter gesetzt.

Aus dem Verhältnis von Fließzeit Ts und Berechnungszeitschrittweite DTb ergibt sich dann für jedes Raumelement der Abflussanteil, der das Segment verlässt und dem Unterlieger (Segment oder Gewässerabschnitt) zugeordnet wird. Der restliche Abfluss verbleibt im Segment, wird durch eventuelle Oberliegerzuflüsse erhöht und im Abflussbil­dungsmodell wieder zur Infiltration angeboten.

3.5 Schnittstellen

Die Anwendung der kinematischen Welle ist mit einer Reihe von schon diskutierten Unsicherheiten bei der Parametrisierung verbunden (Wahl der Rauhigkeiten, Übergang vom Schicht- zum Gerinneabfluss). Eine weitere liegt in der Ermittlung des Fließweges Fl des Landoberflächenabflusses zum Unterlieger. Programmintern wird dieser Fließweg aus der Entfernung zwischen den Flächenschwerpunkten der Teileinzugsgebiete bzw. der Entfernung zum unteren Gewässerknoten ermittelt. Diese Luftlinienentfernung berücksichtigt nicht das Relief, über das der wahre Fließweg ein Vielfaches der Luftlinienentfernung betragen kann. Letztlich wird damit die Konzentrationsgeschwindigkeit über- und die Konzentrationszeit unterschätzt.

Eine Verringerung der Konzentrationsgeschwindigkeit ist über eine Verlängerung des Fließweges möglich.

Dazu kann in der Steuerdatei MODUL.STE im Anweisungsblock KINWAVE ein Faktor zur Fließwegverlängerung angegeben werden (s. Abbildung 3-1).

Mit diesem Faktor wird der GIS-gestützt ermittelte Fließweg Fl multipliziert.

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KINWAVE 
FAK_FLIESSWEGVERLAENGERUNG 1. 
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Abbildung 3-1: Modulsteuerung KIN_WAVE

4. Weiterführende Literatur

Dooge, J.C. (1985): Hydrological Modelling and the Parametric Formulation of Hydrological Processes on a Large Scale. WCP- Publ. Ser. No. 96, WMO/TD-No. 43, Geneva

Gupta, V.; Sinclair,P. (1976): Time of concentration of over­land flow; Journal of Hydraulics Division, ASCE, Jg. 102, HY 4

Preißler, G. (1978) : Grundlagen der Hydraulik für Bauingenieure. 2. Lehrbrief für das Hochschulstudium, VEB Verlag Technik Berlin

Ross, B.; Contractor, D.; Shanholth, V. (1979): A finite-ele­ment model of overland and channel flow for assessing the hydro­logy impact of landuse change; Journal of Hy­drology, Amsterdam Jg. 41 H 1 und 2

Willgoose, G.; Bras, R.F.; Rodriguez-Iturbe, I. (1991): A coup­led channel network growth and hillslope evolution model. Water Resources Research, Vol. 27, No 7, pp 1671 – 1684

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